Mit 82 Jahren auf dem Weg zum schwarzen Gürtel

Gebrechlich, hilflos und schwach: So sehen viele Menschen Senioren. Doch die Zahl der agilen älteren Menschen wächst. Immer mehr suchen die Herausforderung als Kampfsportler - und profitieren davon.

Es ist Montagmorgen, 11:15 Uhr. In einer mit Matten ausgelegten Halle haben sich rund 20 Frauen und Männer versammelt. Sie sind barfuß, tragen leichte weiße Hosen und Jacken, um ihre Bäuche haben sie farbige Stoffgürtel gebunden. Viele haben graues Haar. Durch die Oberlichter an einer Wand dringt das helle Licht der Sommersonne, es ist angenehm warm. Eine andere Wand ist komplett verspiegelt, sodass der Raum riesig wirkt.

Es gibt wohl nur wenige Kampfsportbegeisterte, die sich schon am Vormittag zum Training treffen. Doch diese Karate-Gruppe unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von vielen anderen Freizeitkämpfern: Das Berufsleben der Sportler liegt bei den meisten schon viele Jahre zurück, morgens warten nur selten andere Termine auf sie.

Bei Günter Lenz ist es nun 17 Jahre her, seit er als Gerichtsvollzieher in Rente ging. Mit seinen 82 Jahren ist der groß gewachsene Pensionär hier im Sportstudio Nippon in Berlin-Steglitz kein Einzelfall, die älteste Kämpferin ist stolze 92 Jahre alt.

Im Dojo, wie ein Trainingsraum im Japanischen genannt wird, stehen die Senioren in ihren Kampfanzügen jetzt in vier Reihen vor dem Trainer. Der durchtrainierte Schwarzgurtträger ist in einem Alter, in dem er gut der Enkel von Lenz sein könnte. Im Raum herrscht eine disziplinierte Stille, außer dem Übungsleiter spricht niemand. Mit ein paar Dehnungsübungen geht der Unterricht locker los, doch dann zeigt sich, dass hier mehr gefordert wird als körperliche Fitness.

Der Trainer ruft japanische Befehle in den Raum. Lenz und seine Mitstreiter reagieren mit entsprechenden Schlag- oder Abwehrtechniken. Eine Vielzahl an Techniken mit fremden Namen fragt der Kampfsportmeister hintereinander ab – die Senioren schlagen jedes Mal reflexartig und nahezu synchron mit Fäusten und Handkanten in die Luft. Bei den blitzschnellen Bewegungen von Armen und Beinen kommt eine beträchtliche Energie der Trainierenden zum Vorschein.

Tausende Senioren in den Karate-Schulen

Dass Senioren sich auf das Abenteuer Kampfsportschule einlassen, mag ungewöhnlich scheinen. Ganz klar zeichnet sich aber ein erstaunlicher Trend ab: Die Zahl der Mitglieder im „Deutschen Karate Verband“ wächst stetig. Waren es im Jahr 2008 gerade einmal 766 Kämpfer, die 60 Jahre oder älter waren, lag die Zahl im vergangenen Jahr bei 2.777. Seit 2012 hat sich die Zahl der betagten Mitglieder verdoppelt. Ist dies die Reaktion von Senioren auf ein wachsendes Sicherheitsbedürfnis?

Offizielle Zahlen belegen, dass es nur wenig Grund gibt, Angst zu haben. Das Risiko für Senioren, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, ist in Deutschland eher gering. Seit vielen Jahren sind ältere Menschen zu weit unter zehn Prozent von diesen Straftaten betroffen, wie die Kriminalitätsstatistik des Bundeskriminalamts zeigt.

Lediglich 5,4 Prozent der Geschädigten durch Gewaltkriminalität waren im vergangenen Jahr älter als 60 Jahre. Im Jahr 2006 waren es 4,9 Prozent, wobei die leichte Steigerung auch durch den demografischen Wandel zu erklären sein dürfte.

Karl-Günther Theobald, Psychologe beim Opfer-Hilfe-Verein Weißer Ring, kennt diese Zahlen und verweist dennoch auf die besondere Situation von älteren Menschen. Das Gefühl schwindender Kräfte lässt die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, wachsen.

Tritt ein solches Ereignis dann auch noch ein, können die Folgen schwerwiegender als bei jüngeren Betroffenen sein. Fehlende Sozialkontakte können eine erlebte Straftat noch belastender machen, bei Körperverletzungen dauert der Heilungsprozess deutlich länger. „Zudem fällt es älteren Mitbürgern oft wesentlich schwerer, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen“, betont Theobald.

Kampf gegen imaginäre Gegner

Im Dojo in Steglitz sind Lenz und die anderen Kampfsportler nun gut aufgewärmt: Es ist an der Zeit, die traditionellen Kata zu laufen. Hierbei kämpft ein Sportler gegen imaginäre Gegner nach einem genau vorgegebenen Ablauf – dynamisch und kraftvoll kicken und schlagen die Senioren auf ihre fiktiven Angreifer ein.

Wer diese Übungsformen nach monatelangem Training ausreichend perfektioniert hat, kann sich zu einer Prüfung anmelden und einen höheren Gürtelgrad erreichen. Der frühere Gerichtsvollzieher hat es bereits bis zum Braungurt gebracht – die nächste Gürtelfarbe wird schwarz sein.

Nach einer guten Stunde wird der Unterricht dann äußerst realitätsnah. Der Karatemeister führt mit seinem Assistenten Abwehrtechniken gegen Schläge und Umklammerungen vor. Es wird geblockt, gehebelt und geschlagen – jedoch immer nur so, dass das Gegenüber nicht wirklich verletzt wird. Die Senioren kopieren die gezeigten Bewegungsabläufe und beherrschen meist nach wenigen Korrekturen die effektiven Abwehrtechniken.

Ganz zum Schluss werden auch die wichtigsten Muskelgruppen für eine wirksame Verteidigung trainiert. Fäuste und Füße landen mit voller Wucht auf Schlagpolstern, die bei einer Partnerübung hochgehalten werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird klar: Auch Senioren-Karate ist deutlich in einer anderen Kategorie als Wassergymnastik angesiedelt.

Ältere Anfänger waren die Ausnahme

Bereits vor mehr als 23 Jahren hatte der Besitzer des Berliner Sportstudios, Andreas Sparmann, die Idee, Karate-Training auch für ältere Menschen anzubieten. Zwar gab es etliche Beispiele, wie Kampfkunst-Meister auch in höherem Alter ihren Sport nicht aufgaben. Doch Senioren, die sich ganz unbedarft neu an diese Sportart heranwagten, waren in den 1990er-Jahren die absolute Ausnahme.

Sparmann machte ein altersangepasstes Angebot, bei dem die besonderen Bedürfnisse von Senioren berücksichtigt werden sollten. Die Gruppe bekam den Namen „Karate 50+“, fand aber vor allem bei wesentlich älteren Menschen Interesse.

Sparmann selbst ist mittlerweile auch weit über 60 Jahre alt und hat von Kindesbeinen an Kampfsport betrieben. Er kennt die Faszination, die von asiatischen Kampfkünstlern wie Bruce Lee ausgeht, ganz genau – und musste sich stets bemühen, übersteigerte Erwartungen an das Karatetraining zu dämpfen.

Mit dem Zerschlagen von Ziegelsteinen hat dieser Sport eher wenig zu tun. Und auch, um gegen Angriffe auf der Straße gewappnet zu sein, eignen sich andere Selbstverteidigungssysteme zum Teil besser. „Beim Training hier kommen die Leute recht schnell auf den Boden der Tatsachen zurück“, erläutert Sparmann. „Man lernt, Konflikte zu vermeiden und trotzdem nicht als Opfer über die Straße zu gehen.“

Kampfsport gegen depressive Stimmungen

Das, was Karate mit älteren Menschen macht, geht weit über den Aufbau von Muskulatur, die Schärfung der Sinne und eine Schulung des Gleichgewichtssinns hinaus. Die Psychologinnen Dr. Katharina Dahmen-Zimmer und Prof. Dr. Petra Jansen forschen schon seit einigen Jahren an der Universität Regensburg zu den Auswirkungen von Karate-Training im höheren Alter. In einer Vergleichsstudie konnten die Wissenschaftlerinnen zeigen, dass DKV-Karate (entsprechend den Regeln des Deutschen Karate Verbandes) im Gegensatz zu einem reinen Bewegungstraining oder einem Gedächtnistraining depressive Stimmungen abmildern kann. „Ein Faktor, der Karate so enorm nützlich für die seelische Gesundheit macht, ist die erlebte Selbstwirksamkeit“, sagt Dahmen-Zimmer.

Mit Selbstwirksamkeit beschreiben Psychologen ein Erlebnis, bei dem die eigenen Fähigkeiten zum Erfolg geführt haben. Karate kann genau dies bieten: Wer sich auf eine ungewöhnliche Herausforderung einlässt und diese meistert, wird stark in seinem Selbstwertgefühl bekräftigt.

Training wirkt wie eine Meditation

Statt eines zunehmenden Gefühls der Hilflosigkeit stellt sich wieder die Haltung ein: Ich kann etwas. Die Psychologin berichtet von einer Karate-Anfängerin, deren Enkel anfangs kommentierten: „Karate? Oma, Du spinnst.“ Nun, nach ein paar Trainingsstunden, sind die Enkel jedoch mächtig stolz auf die Seniorin. Ein weiterer positiver Effekt: Dank der notwendigerweise hohen Konzentration beim Training ist es nicht möglich, sich gleichzeitig mit quälenden Gedanken und Sorgen zu beschäftigen. Der Kopf wird frei – ganz ähnlich wie durch eine Meditation.

Nach der Trainingseinheit in Steglitz sitzt Günter Lenz gemeinsam mit zwei anderen Karatekämpfern bei einem Cappuccino im Bistro des Sportstudios. Er ist der Älteste der kleinen Runde und erzählt, wie er nach seiner Pensionierung zu seinem Hobby gekommen ist. Eher zufällig hatte er im Bezirksanzeiger von dem Club gelesen und war begeistert von der Idee, in seiner vielen freien Zeit als Pensionär mit dem Kampfsport anzufangen. Seine einzige Vorerfahrung war ein mehrwöchiger Selbstverteidigungskurs, den er wegen seines Berufs belegen musste.

Jetzt trainiert er zwei Mal die Woche in dem Sportstudio und trifft dort seine Sportfreunde. Auch wenn sein Blutdruck mittlerweile leicht erhöhte Werte aufweist, ist Lenz überzeugt, dass die regelmäßigen Übungseinheiten ihn fit halten. Seinen Knochen geht es nach eigenem Empfinden sehr gut, jedoch hatte es vor einiger Zeit eine schlimme Verletzung der Achillessehne gegeben. Diese zog sich der Senior allerdings nicht beim Einstudieren von Kampftechniken zu – der Sportunfall passierte beim Fußballspielen.

 
 

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